"Die Demokratie wird sich ändern müssen"

Kann Liquid Democracy eine echte Alternative zur repräsentativen Demokratie sein? Der zweite Teil des Interviews mit dem Abgeordneten der Berliner Piraten, Simon Weiß, beschäftigt sich vor allem mit dieser Frage - und der Rolle, die die Piratenpartei dabei spielt.
Wo sehen Sie die expliziten Vorteile von Liquid Democracy gegenüber konventionellen Partizipationsformen, wie z.B. der rein repräsentativen?

Wenn der Sinn von Demokratie der ist, alle gleichberechtigt ab Entscheidungen teilhaben zu lassen, ist die klassische repräsentative Demokratie - zumal wenn sie ohne direktdemokratische Elemente
ausgestaltet ist - ein sehr weitgehender Kompromiss mit Effizienzerwägungen. Die Entscheidungsfreiheit und politische Beteiligungmöglichkeit des Einzelnen ist auf die Wahl einer Reihe von vorgegebenen Optionen reduziert, wobei Ansätze für völlig verschiedene Politikfelder auch noch im "Gesamtpaket" erwählt werden müssen.

Andererseits ist die Vorstellung einer rein direkten Demokratie, in der alle politischen Entscheidungen unmittelbar von der Gesamtheit getroffen werden, schon insofern unrealistisch, als kein Einzelner das dafür notwendige Zeitbudget aufbringen kann. Schon auf parlamentarischer Ebene ist dafür ja eine Form der Arbeitsteilung in Form von Ausschüssen nötig. Ein solches System würde bei geringer Beteiligung in Einzelfragen zudem Gefahr laufen, von Interessen kleiner Gruppen dominiert zu werden.

Liquid Democracy stellt eine nahezu geniale Lösung dieses Dilemmas dar, da es jedem Einzelnen ermöglicht, sich selbst einzuordnen, was Ausmaß und Ort seiner politischen Beteiligung angeht, und somit im Sinne einer maximalen Beteiligungsmöglichkeit direkte Demokratie schafft. Gleichzeitig ermöglichen die flexiblen Delegationen ein System der Arbeitsteilung, da jeder die Auseinandersetzung mit Themen denjenigen überlassen kann, denen er dabei spezifisch vertraut.

Hat damit die repräsentative Demokratie, so wie wir sie heute in Deutschland vorfinden, Ihrer Meinung nach ausgedient?

Für den Kontext des 18. und 19. Jahrhunderts, in dem sie ihre Wurzeln hat, erscheint mir die parlamentarische Demokratie als hervorragende Lösung. Gleichzeitig halte ich es in Anbetracht der Chancen, die sich durch die neuen Möglichkeiten des Informationsaustausches und der Informationsverarbeitung bieten, für ausgeschlossen, dass sie in ihrer jetzigen Form diesen Status beibehalten kann. Inwieweit eine bessere Gesamtlösung durch eine modifizierte repräsentative Demokratie oder eine direkte Demokratie im Sinne von Liquid Democracy gefunden werden kann, will ich jetzt nicht dogmatisch festlegen. Für wichtig halte ich es allerdings, dass wir die vorhanden Möglichkeiten schon jetzt überall wo es geht zur Schaffung definierter demokratischer Freiräume nutzen, in denen Entscheidungen unter gleichberechtigter Mitbestimmung aller Beteiligten gefällt werden.

Ist die Piratenpartei mit ihrem Konzept die letzte Rettung für die Demokratie?

So vermessen, das zu behaupten, würde ich nicht sein. Zumal wir auch genauso wenig wie jeder andere Besitzansprüche auf eine Idee geltend machen können.

Auch würde ich in diesem Kontext eher von der Ergreifung von Chancen als von Rettung sprechen, denn: Ändern wird sich die Demokratie meiner Meinung nach in der Tat müssen; viel bemerkenswerter scheint mir aber, dass sie es auch können wird.

Jeder Wähler hat die Möglichkeit sich ständig zu jeder Abstimmung neu zu positionieren. Daraus ergibt sich dann aber auch die absolute Entscheidungsunsicherheit, denn niemand kann vorher wissen, wie eine Abstimmung dann letztendlich ausgehen wird. Wie kann bei Liquid Democracy eine stringente, für den Wähler vorhersehbare Politik gewährleistet werden?

Das Konzept von Liquid Democracy führt ja gerade dazu, dass die strikte Trennung zwischen Wählern auf der einen und denen, die Politik machen auf der anderen Seite aufgehoben wird. Die Vorhersehbarkeit im Sinne der Kontrolle über den Einfluss der eigenen Beteiligung ist dabei für den
Einzelnen eher gegeben als in einem repräsentativem System.

Politische Vorhaben, die eine zeitliche Kontinuität oder Abstimmung aufeinander erfordern, sind dabei nicht prinzipbedingt benachteiligt. Sie erfordern eben entsprechende Selbstverpflichtungen in den Entscheidungen, die wie jedes andere Anliegen um Mehrheiten werben müssen.

Der letzte Teil des Interviews erscheint am  03.11.2011.

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