"Schnittstellen zur Offlinewelt"

Simon Weiß (Piratenpartei)
Mit der Piratenpartei hat eine neue politische Kraft die parlamentarische Bühne geentert. 8,9 Prozent der Wähler gaben der noch recht neuen Bewegung bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 ihre Stimme und aktuell stehen sie laut Forsa-Umfrage sogar bundesweit bei 10 Prozent. Doch wo liegen die Gründe für die hohe Zustimmung und was genau steckt hinter den, von der Piratenpartei beworbenen, Demokratiekonzepten, mit denen sie die repräsentative Demokratie in Deutschland grundlegend verändern wollen?
Um diese und weitere Fragen zu klären, habe ich ein Interview mit dem neuen Berliner Abgeordneten der Piratenpartei, Simon Weiß, geführt. Im ersten Abschnitt des dreiteiligen Interviews stehen die Berliner Wahl und die Frage, was man sich unter Liquid Democracy vorzustellen hat, im Fokus.

Herr Weiß, erst einmal herzlichen Glückwunsch zu dem hervorragenden und für viele politische Beobachter überraschenden Ergebnis bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus. Können Sie seitdem noch ruhig schlafen?

Kann ich. Die Verantwortung, die es mit sich bringt, jetzt in einem Parlament Millionen von Menschen zu vertreten, geht mir natürlich schon persönlich nahe. Ich hätte aber auch nie kandidiert, wenn ich mich nicht bereit gefühlt hätte, dieser Verantwortung gerecht zu werden.

Sie waren auf dem 6. Platz der Landesliste und sind damit – genauso wie Ihre 14 Parteikollegen - souverän ins Abgeordnetenhaus eingezogen. Wie erklären Sie sich den überaus hohen Zuspruch, den Ihre Partei bei den Wahlen erfahren hat? 'Innovatives Programm', 'Protestwähler' oder einfach nur 'der Scharm des Neuen'? Was war Ihrer Meinung nach also der ausschlaggebende Faktor für diesen Erfolg?

Meiner Wahrnehmung nach war vor allem ausschlaggebend, dass uns viele Berliner als eine wählbare echte Alternative gesehen haben. Das war zunächst unsere Kampagne, die sich im Wahlkampf positiv hervorgehoben hat, so dass es uns gelungen ist Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Diese hat sich dann zusammen mit dem Zuspruch in den Umfragen weiter selbst verstärkt, da wir uns als glaubwürdige Alternative darstellen konnten mit realistischen Aussichten, ins Parlament einzuziehen und dort echte Veränderungen vor allem in Richtung von mehr Demokratie und Transparenz zu bewirken. Auch wenn unsere Kampagne stark themenbezogen war und wir sicherlich von vielen für unser Programm gewählt wurden, lässt sich nicht bestreiten, dass ein Teil unseres überraschend großen Zuspruchs von Wählern stammt, die sich weniger aufgrund konkreter Positionen als aus allgemeineren Erwägungen heraus entschieden haben. Mein Eindruck ist aber auch der, dass sich das nicht gut auf den Begriff "Protest" reduzieren lässt, da es tatsächlich von echten Erwartungen und Hoffnungen getragen wird, die in uns gesetzt werden.

In Berlin ist die Piratenpartei mit dem Motto 'Mehr Demokratie wagen!' angetreten. Hinter diesem Motto verbergen sich zwei politische Konzepte: Liquid Feedback und Liquid Democracy. Können Sie kurz erläutern, was man sich unter diesen Konzepten vorzustellen hat und worin sie sich unterscheiden?

Liquid Democracy ist ein Demokratiekonzept, das die Möglichkeit direkter Beteiligung mit der flexiblen Delegation von Entscheidungen verbindet. Die Idee dabei ist folgende: Statt zwangsläufig alle Entscheidungen selbst zu treffen oder sie ohne weitere Einflussmöglichkeit auf einen gewählten Vertreter übertragen, ist es möglich, sich selbst zu entscheiden, worüber man direkt mitentscheiden möchte und welche Entscheidungen man einem frei bestimmbaren Vertreter überlassen will. Wichtig ist dabei, dass die dadurch zustandekommenden "Delegationen" jederzeit zurückziehbar und themenspezifisch sind (man kann also z.B. Entscheidungen zu Bildungspolitik selbst treffen und Entscheidungen zu Sozialpolitik einem bestimmten Vertreter überlassen, aber bei einer konkreten Entscheidung zu diesem Thema immer noch selbst von seiner Stimme Gebrauch machen, wenn man möchte).

LiquidFeedback ist eine Softwareplattform, die das Konzept von Liquid Democracy umsetzt und die innerhalb der Piratenpartei zur Meinungsbildung verwendet wird. Sie wurde parteiextern Ende 2009 als Open-Source-Projekt entwickelt, ihre Verwendung und Weiterentwicklung stehen also jedem offen. Ab Anfang 2010 wurde LiquidFeedback erstmals von den Berliner Piraten verwendet, in der Folge auch von verschiedenen anderen Landesverbänden und bundesweit mit eigenen Instanzen. Dabei erhält jeder Pirat einen Zugang zum System. Alle Piraten können in diesem System gleichberechtigt teilnehmen, indem sie Anträge einstellen und diese durch gemeinsames Feedback weiterentwickeln. Jeder Teilnehmer kann außerdem zu einem bestehenden Antrag Alternativen einbringen. Nach einer gewissen Zeit wird im System über die alternativ zueinander eingestellten Anträge abgestimmt, so dass eine Entscheidung getroffen wird.

Werden diese Konzepte schon irgendwo angewandt? Können Sie exemplarisch beschreiben, wie ein Liquid Democracy-Konzept auf Landesebene in NRW aussehen könnte?

Das Konzept von Liquid Democracy wird zur Zeit von der Piratenpartei in oben beschriebener Form angewandt. Darüber hinaus wird an verschiedenen anderen Stellen damit experimentiert und es besteht ein sehr breites Interesse an diesen Konzepten. Eine ähnlich umfangreiche Implementation wie unsere ist mir allerdings tatsächlich nicht bekannt.

Für ein Beispiel eines möglichen Projekts auf Landesebene, das Ideen von Liquid Democracy umsetzt, kann ich auf das Berliner Wahlprogramm verweisen. Dort haben wir uns für die Schaffung einer Online-Demokratieplattform ausgesprochen, in der alle Bürger die Möglichkeit haben, gemeinsam politische Entscheidungen zu treffen. Die Ergebnisse sollen zunächst in Volksentscheiden münden, in denen sie als verbindlich bestätigt werden. Das ganze wäre also zunächst eine Alternative zu bestehenden Volksbegehren. In einem solchen System lässt sich - vergleichbar mit der Art, wie wir dies bereits parteiintern mit LiquidFeedback tun - dann echte Entscheidungsfindung nach dem Prinzip von Liquid Democracy betreiben.

Wichtig wäre es dabei, ein solches Projekt auch ernstzunehmen und seine Einführung mit entsprechenden Maßnahmen zu begleiten. Im Vergleich zum Einsatz von LiquidFeedback in der Piratenpartei ergeben sich dabei ganz andere Herausforderungen, insbesondere was die Schaffung von Schnittstellen zur "Offlinewelt" angeht.

Ein weitergehender Ansatz wäre es natürlich, die Legislative vollständig nach den Prinzipien von Liquid Democracy zu organisieren. Auch wenn das beschriebene Projekt hinter dieser Utopie zurückbleibt, lässt es sich als erster Schritt in diese Richtung sehen und ist bewusst so konzipiert, dass seine Umsetzung - den politischen Willen vorausgesetzt - schon jetzt ohne weiteres möglich wäre.

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