Schiffbruch oder Bundestag?

Quelle: Hochschulpiraten (Flickr)
Mediale Kampagnen, plötzlicher Stimmungswandel in der Bevölkerung und die Gefahr des Populismus. Wie kann Liquid Democracy mit diesen Problemen umgehen? Kann sie die Interessen von Minderheiten schützen? Und wie wird es mit der Piratenpartei weitergehen. Lesen Sie das, und noch einiges mehr, im letzten Teil des Interviews mit dem Abgeordneten Simon Weiß.


Unvorhersehbare Ereignisse, wie z. B. die Anschläge vom 11. September 2001, und auch mediale Kampagnen können einen kurzfristigen Stimmungswandel in der Bevölkerung verursachen. Ist die Gefahr der Beeinflussung der Bevölkerung und damit dann letztendlich auch der Entscheidungsfindung durch solche äußeren Einflussfaktoren nicht zu groß?

Die Möglichkeit einer kurzfristigen Meinungsänderung durch unvorhergesehene Ereignisse ist auch in einem klassischen repräsentativen System bei gewählten Vertreten ebenso möglich wie bei jedem anderen. Gerade der 11. September oder auch z.B. die Katastrophe von Fukushima sind ja Beispiele dafür. Ob man dies im Einzelfall nun positiv oder negativ bewertet sei dahingestellt, es spricht jedenfalls meines Erachtens nicht an sich gegen ein demokratisches System wenn seine Entscheidungen durch veränderte Umstände beeinflussbar sind.

Eine einseitige Beeinflussung der Mehrheitsmeinung durch Medienkampagnen ist ein Problem, dem sich eher durch eine vielfältige und dezentrale Medienlandschaft und eine breite politische Bildung entgegenwirken lässt.

Das führt uns direkt zu der Frage, ob es für Parteien bzw. Delegierte gleich welcher Art bei Liquid Democracy nicht die beste Lösung ist auf Populismus und eine kurzfristige Politik zu setzten, denn Mehrheiten werden ad hoc gewonnen und müssen nicht mehr über einen längeren Zeitraum akquiriert werden?

Da stellt sich mir die Frage: Beste Lösung für was? Die beste Lösung für die Durchsetzung politischer Ziele könnte es sein, wieder besseren Wissens zu Unrecht populäre oder zu kurzfristig gedachte Lösungen zu setzen, wenn man damit Mehrheiten für andere Vorhaben erreicht. Da Entscheidungen in einer Liquid Democracy nicht nur zeitlich, sondern auch thematisch ad hoc gefällt werden, sehe ich diese Gefahr dort im Vergleich zu repräsentativen Verfahren wenn dann eher reduziert.

Es kann natürlich auch die beste Lösung zur Sicherung der eigenen politischen Karriere im Sinne der Wiederwahl gemeint sein. Das allerdings sind Konzepte einer klassischen repräsentativen Demokratie, deren Übertragung auf Liquid Democracy nicht unbedingt so einfach möglich ist. Wie eine politische Karriere in einem solchen System aussehen oder was an ihre Stelle treten kann, ist eine hochinteressante Frage, die auch von der konkreten Umsetzung abhängt. Warum die Antwort günstigere Voraussetzungen für populistische Entscheidungen beinhalten sollte, wäre mir unklar.

Wie sieht es mit dem Minderheitenschutz aus? Führt Liquid Democracy nicht zwangsläufig zu einer Diktatur der Mehrheit und zu einer Diktatur der Umfragewerte?

Diesen Zusammenhang kann ich nicht erkennen. Minderheitenschutz ist eine Frage des Verfahrens; in LiquidFeedback entstehen Entscheidungen z.B. als Ergebnis eines längeren Prozesses, in dessen Verlauf alle verschiedenen Positionen zu einem Thema gesammelt und nebeneinander bis zur Abstimmung gleichberechtigt weiterentwickelt werden. Dadurch hat auch eine Minderheit die Möglichkeit ihre Position in die Beratung einzubringen und andere zu überzeugen.

Dass auch Mehrheiten nicht das Recht haben, Grundrechte von Minderheiten einzuschränken, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Jedes demokratische System muss dafür unabhängig von seiner Form entsprechende rechtliche Normen anerkennen.

Auf ihren Parteitagen haben die Piraten schon des Öfteren bewiesen, dass man erstaunlich viel Zeit mit Personaldiskussionen verbringen kann und inhaltliche Diskussionen dann letztendlich darunter leiden. Wie soll diese Diskrepanz aus möglichst viel basisdemokratischer Partizipation und einer effektiven Politik aufgelöst werden?

Es liegt in der Natur der Sache, dass demokratische Entscheidungsfindung Zeit braucht und im Vergleich mit anderen Methoden weniger effizient ist. Die Aufgabe, die Politik in unserer Gesellschaft hat, ist dabei meines Erachtens wichtig genug, dass das Verhältnis von Aufwand und
Nutzen weniger schwer wiegt als der Nutzen im Sinne einer breiten demokratischen Beteiligung selbst.

Kritisch wird es dabei natürlich dann, wenn durch begrenzte Diskurs- oder Entscheidungskapazitäten Themen an den Rand gedrängt werden. Dieses Problem hatten wir in der Tat auf unseren Parteitagen schon. Wir arbeiten weiter daran, damit umzugehen; eine Trennung von Wahl- und Programmparteitagen hat sich bereits als sinnvoll erwiesen. Die Verwendung eines Liquid-Democracy-Systems in Form von LiquidFeedback ist dabei ebenfalls eine zentrale Maßnahme, mit der wir dem Argument nach der Einführung eines weniger demokratischen Delegiertensystems aus reinen Effizienzerwägungen entgegentreten.

Der aktuellen Forsa-Umfrage zufolge steht Ihre Partei bundesweit bei 10 Prozent. Wo sehen Sie Ihre Partei in 5 Jahren? Schiffbruch oder Bundestag?

Wenn man bedenkt, welche Entwicklung die Piratenpartei in den ersten fünf Jahren ihrer Existenz und speziell seit 2009 durchlaufen hat, fällt es schwer, eine sichere Prognose für die nächsten fünf abzugeben. Als Partei ist unser nächstes Ziel, uns für die Bundestagswahl aufzustellen und dabei mit über fünf Prozent ins Parlament einzuziehen. Ich halte das für realistisch, auch falls es nicht auf Anhieb gelingt wäre es aber nicht der Untergang der Partei.

Für uns in Berlin wird es natürlich in den nächsten fünf Jahren am Wichtigsten sein, unter Beweis zu stellen, dass wir sinnvolle parlamentarische Arbeit leisten können. Wenn uns das gelingt, bin ich
zuversichtlich. Unabhängig von der Zukunft der Piraten bin ich davon überzeugt, dass unsere Demokratie auf die Dauer nicht umhin kommen kann, die durch den technischen Wandel entstehenden Chancen zur Öffnung zu nutzen.

Herr Weiß, ich danke Ihnen für das ausführliche Interview!

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