„Der letzte und härteste Test bleiben die Wahlen“

Thomas Poguntke
Beim morgigen 'NRW Forum: Zukunft Demokratie' wird Professor Thomas Poguntke im Panel 1 zum Thema "Was begründet die schwindende Orientierungs-funktion der Volksparteien?" referieren. Poguntke ist Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt ''vergleichende politische Systemforschung und Parteienforschung'. Sein Lebenslauf liest sich europäisch: Studiert in Stuttgart und London, promoviert in Florenz, habilitiert in Mannheim, danach sechs Jahre an zwei britischen Universitäten tätig. Über den Umweg Bochum ist er nach Düsseldorf gekommen, und ist dort Professor für vergleichende Politikwissenschaft sowie Leiter des Instituts für Parteienforschung (PRuF).

In diesem Interview spricht Thomas Poguntke über die deutsche Demokratie, Tempolimits, die Parteienland-schaft, Fitnessstudios und die 10%-Welle, auf der die Piraten momentan schwimmen...


Was sind die Stärken und Schwächen der “deutschen” Demokratie?

"Die Stärken sind sicher, dass die deutsche Demokratie insgesamt relativ vorhersagbar ist und verlässlich funktioniert. Bespiele sind die Regierungsbildungen und die Regierungsstabilität. Eine gewisse Schwäche ist, mit Einschränkungen, eine etwas stärkere Abschottung gegenüber direkten Artikulationen des Bürgerwillens, Stichwort direkte Demokratie. Da könnte man vielleicht noch etwas mehr tun. Man muss auch aber sagen, dass sich in den letzten 10 bis 15 Jahren gerade auf Landesebene sehr viel bewegt hat. Ebenfalls Bewegung lässt sich bei der Öffnung der Parteien gegenüber den Wählern ausmachen. Dies passiert zum einen gegenüber der eigenen Mitgliederbasis, aber zum Teil gibt es auch Experimente, die über die Mitgliederbasis hinausgehen. Bei Personalentscheidungen ist die gegenwärtige Debatte in der SPD ein schönes Beispiel."

Stichwort direkte Demokratie: Wie bewerten Sie Stuttgart 21 vor diesem Hintergrund?

"Stuttgart 21 zeigt alle Stärken und Schwächen direktdemokratischer Verfahren. Es ist immer schwierig, in demokratischen Systemen kontroverse Projekte durchzusetzen, weil es immer einen Teil der Bevölkerung geben wird, der sich gegen solche Projekte ausspricht. Wenn diese Teile der Bevölkerung ressourcenstark sind, können sie solche Projekte anhalten. Das ist die schwierige Gratwanderung zwischen der Respektierung des Bürgerwillens im engeren Bereich und der Notwendigkeit, für das gesamte Land bestimmte Dinge zu tun.

Sie sehen ja jetzt das Beispiel der beginnenden Diskussion im Zusammenhang mit dem Ausstieg aus der Atomenergie. Da wird gesagt: 'Wir müssen jetzt mehr Stromtrassen bauen, da der Wind im Norden weht und der Strom im Süden verbraucht wird.' Da wird es dann immer lokale Widerstände geben. Mit diesem Problem muss man umgehen. Stuttgart 21 ist wohl deshalb so aus dem Ruder gelaufen, weil im Vorfeld kommunikativ nicht genug in die Öffentlichkeit gegangen worden ist. Auf der anderen Seite ist es so, dass die Planfeststellungsverfahren in Deutschland an jedem Punkt ausreichend Bürgerbeteiligung vorsehen. Das Problem sind eher die langen Planungszeiträume."

Die Gemeinsamkeiten der Parteien bei ihrer Gründung sind eindeutig: Schlechte Kleidung und nur ein Thema. Steht den Piraten ein ähnlicher Erfolg wie den Grünen bevor?
"Da bin ich eher skeptisch. Die Piraten sind nicht Ausdruck eines tief in der Bevölkerung verankerten Grundsatzkonfliktes. Die Grünen haben das Thema Ökologie früher erkannt als alle anderen Parteien und es dann um eine neue Art von Friedenspolitik ergänzt. Das war tragfähig und trägt bis heute. Bei den Piraten ist es etwas schwer zu sehen, dass die Unzufriedenheit mit bestimmten Regelungen, die das Internet betreffen, tatsächlich auf Dauer einen gesellschaftlichen Konflikt konstituieren wird."

Trotzdem schwimmen die Piraten gerade auf einer 10%-Welle in bundesweiten Umfragen.

"Die Umfragen haben immer eine eingebaute Neigung zu Übertreibungen. Das spricht nicht gegen die Umfragen an sich. Die Effekte treten aber auf, weil man nicht die tatsächliche Wahlentscheidung simulieren kann, wenn man in der Mitte der Legislaturperiode fragt. Dann werden eher Stimmungen als wirkliche Wahlpräferenzen abgefragt. Da gibt es immer Ausschläge für neue Parteien. Auch bei den Grünen sehen wir jetzt, dass sich der Höhenflug in den Umfragen langsam wieder abnutzt. Vor einigen Jahren hatten wir Ausschläge bei den Freien Wählern, die dann doch nicht so zum Zuge kamen. Stimmungen sind nicht Wahlentscheidungen und wir haben bis zu 40% Spätentscheider. Was in der Mitte der Legislaturperiode gemessen wird, hat mit dem tatsächlichen Wahlausgang nicht viel zu tun."

Die schwindende Wahlbeteiligung ist zu einem Problem der Demokratie geworden. Wieso zwingen wir die Bürger nicht, wie z.B. in Belgien, und führen eine Wahlpflicht ein?
"Das ist der falsche Weg. Man sorgt sich nicht um geringe Wahlbeteiligung, weil es schön ist am Wahlabend von 90% berichten zu können, sondern weil man Sorge hat, dass die Wahlenthaltung bei einem Teil der Wahlbürger Unzufriedenheit ausdrückt. Diese Unzufriedenheit kriegt man nicht dadurch weg, dass man die Leute zwingt. Wenn ich mit Tempolimits unzufrieden bin, dann kann man Radaranlagen installieren, aber meine Unzufriedenheit bleibt, auch wenn ich mich dann an die Tempolimits halte. Das ist nicht der richtige Weg. Sie haben Belgien als Beispiel angesprochen.

Man kann jetzt wirklich nicht sagen, dass die belgische Demokratie besser ist als die deutsche. Die haben gerade über 18 Monate gebraucht, um eine Regierung zu bilden. Man muss sich über andere Dinge Gedanken machen. Das hat auch mit der fehlenden Attraktivität und der immer größer werdenden Ähnlichkeit der Parteien zu tun. Wir haben jetzt gerade gesehen, dass die CDU die nächste Kehrtwende macht und jetzt auch für den Mindestlohn ist. Es wird immer schwieriger zu sagen, wo die Unterschiede zwischen den Parteien sind. Die Grünen sind auch nicht mehr so unterscheidbar. Das erklärt in einem gewissen Grad auch die Attraktivität der Piraten. Man weiß nicht so richtig, für was sie stehen, man weiß aber ganz genau, dass sie ganz anders sind als die anderen."

“Going, going, … gone” ist der Titel eines aktuellen Artikels von ihnen, der sich mit den schwinden Parteimitgliedern beschäftigt. Wieso verlieren die Bürger das Vertrauen in politische Parteien?
"Die rückgehende Parteimitgliedschaft darf man nicht unmittelbar mit einem rückgehenden Vertrauen der Bürger in die Parteien gleichsetzen. Die Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten in allen modernen Demokratien stark gewandelt. Die alten Milieus haben sich weitgehend aufgelöst. Man wird nicht mehr automatisch in eine bestimmte Parteinähe hineingeboren. Das ist das eine und das andere ist, dass die moderne Gesellschaft über vielfältige andere Beteiligungsmöglichkeiten verfügt. Hier können Internetmobilisierung, aber auch klassisches Protestverhalten oder das Bilden von Bürgerinitiativen angeführt werden. Andererseits sind auch die Freizeitmöglichkeiten und anderweitige Betätigungsmöglichkeiten vielfältiger geworden.

Früher waren Parteien ein Ort sozialer Begegnung. Das brauchen die Menschen heute nicht mehr. Die Sportvereine haben dasselbe Problem. Wir haben jetzt erstmals mehr Mitglieder in Fitnessstudios als in Sportvereinen. Das ist eine Entwicklung der Desintegration der Gesellschaft oder einer stärkeren Individualisierung. Es hat auch etwas damit zu tun, dass die Parteien weniger populär und anziehend wirken. Aber das ist nicht die einzige Erklärung."

Zuletzt ein Blick in die Zukunft der Parteien: Welche organisatorischen Veränderungsprozesse sollten/müssten die etablierten Parteien einläuten um künftig wählbar und damit gestaltungsfähig zu bleiben?

"Wer da die richtige Antwort hat, der hat sozusagen den Jackpot geknackt. Es wird keinen Weg zurück zur alten Massenpartei geben. Die heutige SPD an den Mitgliederzahlen zu Zeiten Willy Brandts zu messen, als die SPD zeitweise etwa eine Millionen Mitglieder hatte, ist im Prinzip unfair und wird der modernen Politik nicht gerecht. Parteien werden sich wahrscheinlich noch stärker zu professionalisierten Organisationen wandeln. Dort werden auf Dauer die tätig sein, die eine politische Karriere machen wollen. Die Frage ist dann, mit welchen Methoden sich die Parteien trotzdem in der Gesellschaft verankern. Das wird weniger die traditionelle Mitgliedschaft sein, sondern eher über Referenden, über Webkommunikation, über Focus Groups oder über thematische Arbeitskreise gehen. Da experimentieren die Parteien bereits.

Die Frage, wie vital eine Partei ist, wird in Zukunft weniger stark durch den Blick auf die Mitglieder zu beantworten sein, sondern wie gut es der Partei gelingt, über diese anderen Mechanismen in die Gesellschaft hineinzuwirken. Der letzte und härteste Test bleiben aber die Wahlen."

Das Interview führte Jonas Israel (Foto: Jonas Israel).

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