"Die politischen Parteien sind nicht am Ende"

Prof. Dr. Ton Nijhuis übernimmt die Moderation des Panels 2, auf dem sich über die Frage 'Welche Schwächen der etablierten Parteien nutzen die Populisten?' ausgetauscht wird. Der Niederländer ist wissenschaftlicher Direktor des Duitsland Instituut in Amsterdam, an dem Deutschlandstudien zur Geschichte, Politik, Gesellschaft und Kultur des zeitgenössischen Deutschland erarbeitet werden. Für ein Interview erklärte er sich im Vorfeld der Veranstaltung Zukunft-Demokratie bereit.

1. Herr Nijhuis, an dem niederländischen Deutschland Institut in Amsterdam beschäftigen Sie sich unter anderem auch mit den parteipolitischen Veränderungen in Deutschland. Welche Entwicklung in den letzten Jahren hat besonders Ihre Aufmerksamkeit erweckt?

Das bemerkenswerteste ist die Entstehung einer Vielparteienlandschaft. Nach den Grünen und der Linken hat jetzt auch die Piratenpartei gute Chancen auf Erfolg. In den Niederlanden ist es normal, dass etwa zehn Parteien im Parlament vertreten sind, aber für die Bundesrepublik bedeutet das ein komplett neues Koalitionsspiel mit neuen Spielregeln. Die Zeit der Koalitionen wie Schwarz-Gelb oder Rot-Grün neigt sich dem Ende zu. Es wird bestimmt immer schwieriger werden stabile Mehrheitskoalitionen zu bilden, abgesehen allerdings von einer großen Koalition, die jedoch als Dauerlösung auch nicht wünschenswert ist. Die Aushöhlung der Volksparteien verläuft in Deutschland weniger schnell als in den Niederlanden, aber ist auch hier nicht umkehrbar. In der Zukunft werden wir mit einer Parteienlandschaft von nur noch mittelgroßen und kleineren Parteien leben müssen.

2. Notlösung oder gestaltende Kraft? Nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in Nordrhein-Westfalen regiert aktuell eine Regierung ohne eigene Mehrheit. Halten Sie eine Minderheitsregierung für das geeignete Format die großen Probleme unserer Zeit zu lösen?

Für die Niederlande ist es auch ein Experiment, denn es ist das erste Mal, dass wir eine Minderheitsregierung haben. Bis jetzt ist die Minderheitsregierung ziemlich zugreifend. Auch in NRW ist die Regierung bemerkenswert stabil. Auf Bundesebene denke ich aber, dass eine Minderheitsregierung nicht funktionieren wird und auch nicht wünschenswert ist. Stabilität und Sicherheit waren immer die Schlüsselbegriffe in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Und in Europa brauchen wir das jetzt mehr denn je. Dass eine Minderheitsregierung auf Bundesebene beispielsweise abhängig ist von der Unterstützung der Linken, ist momentan nur schwer vorstellbar. Das ist in den Niederlanden mit zehn Parteien im Parlament etwas anders, weil man dann je nach Thema mit anderen Parteien zusammenarbeiten kann. Das Problem in Deutschland ist, dass man mit der Linken -  in der Zukunft vielleicht auch mit der Piratenpartei  - zwei Parteien hat, die vorerst auf Bundesebene nicht regierungsfähig sind, und eigentlich auch nicht duldungsfähig.

3. Eine spekulative Frage: Nehmen wir an 2013 schaffen es die Piraten in einen dann sechs Parteien starken Bundestag. Geben Sie dann einer Minderheitsregierung im Bund eine Chance?

Nein. So eine Minderheitsregierung kann nicht von den nichtregierenden großen Parteien geduldet werden (dann könnte man gleich eine große Koalition bilden) und das bedeutet dann dass die Regierung durch eine der drei kleineren Parteien geduldet werden muss (FDP\Grünen, Linke oder Piraten). Das kann nie eine stabile Regierung hervorbringen.

4. Was sind Ihrer Meinung nach die drei größten Schwächen der etablierten Parteien?

Politische Parteien haben immer zwei wichtige Funktionen. Sie kombinieren eine repräsentative Funktion und eine staatstragende Funktion. Sie haben aber mit dem Verschwinden der Milieus ihre repräsentative Funktion verloren. Parteien hatten immer ein Bein in der Zivilgesellschaft und das andere im Staat. Sie sind aber immer mehr und mehr zu „verstaatlicht“. Sie haben einerseits mehr Macht als früher, aber mit immer weniger Mitgliedern. Diese Tendenz ist unumkehrbar und führt zu Legitimationsproblemen. Außerdem haben die gesellschaftlichen Konfliktlinien (Religion vs. Säkularisierung, Kapital vs. Arbeit), entlang derer sich die Parteien gebildet haben, an Bedeutung eingebüßt. Die Konfliktlinien waren identitätsstiftend und hatten einen disziplinierenden Effekt auf den Wähler, das ist aber Vergangenheit. 

Das zweite Problem ist die immer größere Komplexität gegenwärtiger gesellschaftlicher Probleme. Parteien sind in der Folge immer technokratischer geworden, fast schon ausschließlich zu Verwaltungsparteien. Das führt zu einer Sprache, die nicht mehr ankommt bei den eigenen Wählern. Hierdurch entsteht eine Kluft zwischen Volk und politische Eliten (die da Oben), die von populistischen, anti-establishment Parteien ausgenutzt werden kann. 

Parteien sind eigentlich dazu da die eigenen nationalen Wähler zu repräsentieren. Das betrifft das dritte Problem, denn in einer Welt, die zunehmend international verflochten ist, insbesondere innerhalb der EU, müssen Parteien und nationale Regierungen sich auch gegenüber vielen anderen Instanzen verantworten. Auch gegenüber den anderen Spielern in der EU gilt das Zurechenbarkeitsgebot von Macht und demokratischen Entscheidungen, denken Sie nur an Griechenland oder Italien. Aber es kann oft passieren, dass man auf der europäischen Ebene Entscheidungen treffen muss, die manche Regierungen und deren eigene Wähler so nicht entschieden hätten, hätte man eine freie Wahl gehabt. Diese externen politischen Zwänge stehen auf „Kriegs-Fuß“ mit der nationalen repräsentativen Politik. Auch das kann von populistischen Parteien ausgenutzt werden, indem sie behaupten, dass eigene Volk zu vertreten und sich dabei eben nicht um die internationale Zuverlässigkeit kümmern müssen, da sie keine Verantwortung tragen. 

5. Gefahr oder Chance – was überwiegt und warum? Sind die Volksparteienruinen eine Gefahr für die Stabilität unserer Demokratie oder ist das dynamische Vielparteiensystem gerade eine Chance für mehr Demokratie und Beteiligung?

Beides. Die Stabilitätsfrage wird schwieriger zu beantworten, aber es gibt auch neue Chancen um die eigenen politischen Präferenzen zu artikulieren. Die größte Gefahr sehe ich darin, dass es für Parteien immer schwieriger wird, auf nationaler Ebene repräsentativ und ansprechbar zu sein, weil gleichzeitig der Handlungsspielraum immer enger wird, wegen internationaler Verpflichtungen oder weil man international zuverlässig sein muss. Wir haben nationale repräsentative Demokratie, aber leben gleichzeitig in einem Europa wo man eigentlich kaum noch etwas im nationalen Alleingang gestalten kann. Oft wird beklagt, dass Regierungen nicht länger regieren, nur noch reagieren. Statt zu gestalten und Präferenzen von Wähler umzusetzen, muss die Regierung immer öfter den Wählern schwierige Maßnahmen zumuten.

6. Die Wissenschaft warnt davor, die Bürger wollen mehr davon: direkte Demokratie – ist unsere repräsentative Demokratie ein Auslaufmodell?

Nein, kein Auslaufmodell. Ohne politische Parteien könnte das demokratische System nicht funktionieren.  Aber gerade weil die repräsentierende Funktion der Parteien immer schwieriger wahrgenommen werden kann, ist es wünschenswert den Bürgern auch auf einer anderen Art und Weise „voice“ zu geben, also mehr direkte Demokratie zu wagen. Das kann mehr sein als nur Volksabstimmungen.

7. Zuletzt ein Blick in die Zukunft der Parteien: Welche organisatorischen Veränderungsprozesse sollten/müssten die etablierten Parteien einläuten um künftig wählbar und damit gestaltungsfähig zu bleiben? Wie sieht die Partei der Zukunft aus?

Tja, wenn ich das wüsste..
Die politischen Parteien sind aber nicht am Ende. Im Gegenteil. Nur für die politischen Parteien, die sich nicht anders denken können als eine klassische Mitgliederpartei, die ihre Wähler aus einem bestimmten Milieu rekrutieren. Aber eine Partei braucht nicht unbedingt eine Mitgliederpartei zu sein. Das sieht man auch in zivilgesellschaftlichen Organisationen, die immer weniger aktive Mitglieder haben, aber viele Sympathisanten. Mobilisierungsstrategien müssen also anders gestaltet werden. Das Problem ist jetzt aber, dass die großen Volkparteien die Wahlkämpfe gegeneinander mit Demobilisierungskampagnen bestreiten.
Ich denke, dass die Partei der Zukunft sich entlang des Models von Zentrum-Peripherie entwickeln wird, also nur noch bestehend aus einem kleinen harten Kern mit einem Kreis von Sympathisanten herum.

Vielen Dank für das Gespräch.

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