In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Zur Relevanz aktueller Gesellschaftsmodelle.

In welcher Gesellschaft wollen wir leben?  Gut, ertappt, die Frage ist einer professionellen PR-Kampagne entliehen. Gut ist die Frage aber alle Male – und zwar so gut, dass sich laut dem Fragesteller (mit dieser Eingangsfrage startete die Aktion Mensch im März 2006 die „Gesellschafter-Initiative“) rund eine Million Menschen dafür interessiert und fleißig (mit-) diskutiert haben.

Eine schöne Frage: simpel und gleichzeitig doch so unendlich komplex – persönlich und doch irgendwie so gemeinschaftlich. Also eben hervorragend dafür geeignet, dass die politik- und wahlverdrossenen Bürger mal eine ordentliche Portion Hirnschmalz verbrennen. Analoge wie auch digitale Gesellschaftswünsche und -prognosen: Deutschland, Land der Dichter und Denker, nun Land der Hobbysoziologen? Eine Analyse von Matthias Bianchi...



Die Morphologie der modernen Gesellschaft beschäftigt selbstredend nicht nur Hobbysoziologen. Gesellschaftsmodelle sind allgegenwärtig. In der Wissenschaft wird gar von einer „Renaissance des Gesellschaftsbegriffs“ (Bühl 2000:15) gesprochen. Und wer kennt sie nicht, die „Punkt Punkt Punkt“- Gesellschaft – ständig wiederkehrende Konzepte aus der Politik, aus den Medien, längst eingebrannt in den alltäglichen Sprachgebrauch. Teilweise abstrakte, hochkomplexe Modelle, nebst mehr oder weniger inhaltsleeren Worthülsen. Gesellschaftsmodelle fungieren als politischer Richtungskompass - ebenso eignen sie sich als politische Floskel.

In welcher Gesellschaft wollen wir also leben? Ist es die Wissensgesellschaft, die Risikogesellschaft, die postindustrielle Gesellschaft? „Demokratischer“ soll sie natürlich irgendwie sein – Klaro; „Anders“ – zwingend; „Gerechter“ – gerne; „Toleranter“ – bitte. Antworten abseits der Komparation von Adjektiven? Fehlanzeige. In einem Blogbeitrag sich auf Antwortsuche begeben: sprichwörtlich so überflüssig wie „Eulen nach Athen zu tragen“.


Ein Blick in die Vergangenheit – oder: in welcher Gesellschaft haben die gelebt?

Athen ist ein gutes Stichwort – zumindest für einen Orientierungsversuch: Schließlich wird die Athener Polis geläufig als Wiege der (modernen) demokratischen Gesellschaft bezeichnet. Kann ein Blick in die Vergangenheit, also auf die Ursprungs- und Reinform der demokratischen Gesellschaft, Anhaltspunkte und Orientierung für das Heute liefern?

Die Antwort lautet „Jein“, mit Tendenz zu „Nein“: In vergangenen Jahren hat es immer öfter Forderungen nach einer Stärkung direktdemokratischer Strukturen gegeben. Auch die darauf aufbauende Idee einer internetbasierten „elektronischen Agora“ wurde vorgetragen (eines der ersten Werke aus dem englischsprachigen Raum dazu befindet sich hier) und beispielsweise durch US-Vizepräsident Al Gore in den 90er Jahren vehement in den politischen Diskurs eingebracht (eine Auswahl seiner Reden zu der Thematik befindet sich hier). Durchaus spannend.

Und auf den ersten Blick ergibt der Gedanke durchaus Sinn: Im antiken Athen standen Bürger und Politiker im Wechselverhältnis – Politik von Bürgern für die Bürger, Regierende und Regierte in Personalunion. Eine wirkliche „Bürgergesellschaft“. Deutschland hingegen erlebt heute scheinbar viel eher ein Spannungs-, denn ein Wechselverhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten. Beschreibungsversuche münden dann prompt in der „Krise der Parteiendemokratie“ oder gar der „Krise der Demokratie“. Umgangssprachlich umformuliert also in der Politikverdrossenheit.

Wäre es nicht wünschenswert, wenn sich die Bürger heute – so wie im antiken Athen – direkt beteiligen könnten und auch beteiligen würden? Also: lernen von Athen? Neben den (berechtigten) Einwänden an direktdemokratischen Systemen hat der Politikwissenschaftler Hans Vorländer einige weitere wesentliche Punkte (hier) aufgeführt, die gegen Athen als Vorbild sprechen. Ein ganz zentraler Punkt daraus: gesellschaftliche Komplexität, in jeder Hinsicht. Der Vergleich mit Athen hinkt. Deshalb: Spurensuche im Heute – in welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?

Ein Blick in die Gegenwart – oder: in welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist eine Vielzahl von (Er-) Klärungsversuchen entstanden, die irgendwo zwischen (oft kritischen) Gegenwartsprojektionen und (selten heiteren) Zukunftsprognosen anzusiedeln sind. In der Soziologie wird gar von einer „Gründerzeit“ für neue Gesellschaftsentwürfe und Modelle gesprochen (vgl. Schäfers/Zapf 2001:267). Sicher, das Gerüst der heutigen (und künftigen) Gesellschaft muss präzise(r) skizziert werden. Denn die alten Bindungs- wie auch Lösungsmittel des sozialen Kitts haben sich gewandelt. Viele alte Cleavages, also gesellschaftliche Konfliktlinien, sind verschwunden, neue sind entstanden. Klar, Klassenkampf ist irgendwie passé. Neue Lebensentwürfe sowie Arbeits- und Wirtschaftsmodelle, komplexere Interdependenzen und (globale) Verknüpfungen. Die Sozialstruktur in der Findungsphase: Individualisierung, Globalisierung usw. haben zur Orientierungslosigkeit der modernen Gesellschaft beigetragen. In welcher Gesellschaft leben wir also eigentlich? Hier ein bescheidener Orientierungsversuch.

Der US-amerikanische Soziologe Daniel Bell hat für die Erklärung von sozialen Wandlungsprozessen die Idee eines sog. „axialen Prinzips“ entworfen: axial weil sich gesellschaftliche (Wandlungs-) Prozesse insbesondere um ein sie organisierendes dominantes Prinzip anordnen. Bell ist zudem einer der Vordenker der Wissensgesellschaft. Wissen und Information nehmen für ihn die Stellung des „axialen Prinzips“ (Bell 1976: 110ff.) bei der Evolution von der Industrie- zur Wissensgesellschaft ein – die Produktion, Reproduktion und Distribution von Information und Wissen wird zum konstitutiven Prinzip moderner Gesellschaften.

Eine vergleichende Betrachtung einiger der am meisten beachteten Gesellschaftsbegriffe weist überraschende Überschneidungen auf: Hier wären explizit die Wissens- (Bell 1976), die Informations- (Spinner 1998; Wersig 1996), die Virtuelle- (Bühl 2000), die Netzwerk- (Castells 2001; van Dijk 1999) und die Risikogesellschaft (Beck 1986) zu nennen. Gemeinsamer Grundkern dieser Modelle ist die herausgehobene Bedeutung von Wissen.

Ist Wissen also die Achse der modernen Gesellschaft – ist Wissen das axiale Prinzip? Schwer zu sagen. Immerhin: Ungewissheit oder Nichtwissen bedeutet Risiko und Risiko kann schnell Krise bedeuten. Lässt sich ja momentan „schön“ an der Finanz- bzw. Währungskrise illustrieren. Unsere Gesellschaft ist in den vergangenen Jahren – ohne hier dezidiert auf die Ursachen eingehen zu können – immer komplexer, damit informationsreicher, dadurch risikoanfälliger und folglich unsicherer geworden. Dies kann man ebenso in der Politik, wie auch in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen beobachten. Wissen als Prinzip einer funktionierenden Gesellschaft - Nichtwissen als ihr Krisensymptom.

Die Verringerung von Wissenslücken scheint die große Herausforderung der gesellschaftsstrukturellen (Meta-) Morphose zu sein. In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Die Antwort kann nur lauten: in einer sich wandelnden Gesellschaft. Alles andere wissen wir nicht. 

Ein Blick in die Zukunft – oder: in welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Gesellschaften basieren seit jeher auf Interaktion, also auf einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Kommunikations-, Informations- und Wissensströme. Dies war schon im antiken Athen der Fall und wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Wie das neuronale System eines natürlichen Organismus benötigen auch funktionierende Gesellschaften ein rezeptives Neuronen-Netzwerk, das sich durch das gesamte System zieht. Folgen wir dieser Allegorie, dann gleichen Störungen im gesellschaftlichen Wissensfluss oder nicht funktionierende Informationsschnittstellen und -transmitter einer neuronalen Erkrankung. Eine intakte Informationsproduktion, -speicherung und -weiterleitung ist daher überlebensnotwendig für die demokratische Gesellschaft.

Die wesentliche Grundlage moderner gesellschaftstheoretischer Modelle zielt deshalb auf die Reduktion von Komplexität, auf die Minimierung von Risiko, Unsicher- oder Unwissenheit durch Wissen und Information ab. Die Produktion, Reproduktion und Distribution von Information und Wissen ist daher ein ganz wesentlicher Faktor für die Frage, in welcher Gesellschaft wir (künftig) leben werden. Eine universelle Antwort gibt es nicht – ebenso wenig wie es derzeit DAS Gesellschaftsmodell gibt.

Allerdings dienen Gesellschaftsmodelle eben primär als Richtungskompass. Und wenn man schon einmal in die richtige Richtung blickt, dann lassen sich auch einige Entwicklungen bereits heute beobachten: Initiativen wie Open Access und Open Data markieren einen Paradigmenwechsel in der Verbreitung von Wissen. Bisher eher beispielhaft ausgeführte Möglichkeiten für mehr Partizipation und erhöhte Transparenz (Open Government) entwickeln sich. Die Informations- und Wissenskanäle des Staates werden langsam rejustiert. Bei all diesen Punkten stehen wir allerdings noch ganz am Anfang des Wandels.

In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Vermutlich in einer Gesellschaft, die sich weiterhin wandelt.


Anmerkungen/Literaturhinweise
  • Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft : Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. Suhrkamp.

  • Bell, Daniel (1976): Die nachindustrielle Gesellschaft. Frankfurt a.M. Campus-Verlag.

  • Bühl, Achim (2000): Die virtuelle Gesellschaft des 21. Jahrhunderts: sozialer Wandel im digitalen Zeitalter. Wiesbaden. VS Verlag für Sozialwissenschaften.

  • Castells, Manuel (2001). Das Informationszeitalter (3 Bände). Band 1(1996): Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft [1996]. Opladen: Leske + Budrich Verlag 2001; Band 2 (1997): Die Macht der Identität . Opladen: Leske + Budrich Verlag 2002; Band 3 (1998): Jahrtausendwende. Opladen: Campus Verlag 2003.

  • Dijk, Jan J. van (1999): The network society. Social aspects of new media. London. Sage Publishers.

  • Schäfers, Bernhard / Zapf, Wolfgang (2001): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands. Wiesbaden. VS Verlag für Sozialwissenschaften.

  • Spinner, Helmut F. (1998): Die Architektur der Informationsgesellschaft. Entwurf eines wissensorientierten Gesamtkonzepts. Bodenheim. Philo Verlagsgesellschaft.

  • Wersig, Gernot (1996): Die Komplexität der Informationsgesellschaft. Konstanz. UVK.

Foto:  'jffm', CC BY-NC-SA 2.0

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