Die Piraten – Protestpartei oder wählbare Alternative?

Quelle: Piratenpartei (Flickr)
Es war schon eine Sensation, dass am 18. September die Piratenpartei in Berlin erstmals in ein Landesparlament einzog. Doch nicht nur der bloße Einzug, sondern insbesondere auch die Höhe des Wahlsieges (8,9 %) bei gleichzeitigem Scheitern der FDP an der Fünfprozent-Hürde wusste zu überraschen.

Der vorliegende Beitrag soll sowohl inhaltliche und organisatorische Aspekte bezüglich politischer Entscheidungsprozesse (Liquid Democracy), als auch die Themenauswahl der neuen Partei aufzeigen um anschließend der Frage nachzugehen, ob es sich bei den Piraten um eine Protestpartei oder eine ernstzunehmende, wählbare Alternative im etablierten Parteiensystem handelt.

Diese Frage wurde noch vor der Berlin-Wahl meist mit dem Verweis auf eine Protestpartei und einem zeitlich begrenzten Phänomen abgetan. Zu sehr waren die Piraten durch das den kleineren Wahlerfolgen 2009 und 2010 anschließendem Chaos und Querelen bezüglich der innerparteilichen Organisation, bis hin zu Abbrüchen von Parteitagen, gekennzeichnet gewesen. Die Bekanntgabe des vorläufigen Scheiterns des Online-Demokratie-Tools „Liquid Democracy“ und der weniger erfolgreiche Ausgang der NRW-Landtagswahl, bei der allenfalls Achtungserfolge in einigen Wahlkreisen erzielt werden konnten, taten das Übrige dazu bei, der jungen Partei die Politikfähigkeit abzusprechen oder ihr gar ein jähes Ende zu prognostizieren. Die Wahl in Berlin hat zumindest vorerst das Gegenteil bewiesen. Auch durch Kritik an den etablierten Entscheidungsstrukturen und der Inbetrachtziehung neuer Wege demokratischer Entscheidungsfindung konnten Wähler aus allen politischen Lagern gewonnen werden.

Netzpolitik – und sonst?

Im Umfeld der sogenannten Zensursula-Debatte entstanden, wird der Piratenpartei oftmals vorgeworfen, eine monothematische Partei zu sein. Und tatsächlich scheint ein erster Blick auf die Ziele diese Vorahnung zu unterstreichen. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass es nicht nur um die Verhinderung von Netzsperren und der Vorratsdatenspeicherung geht. Vielmehr geht es neben diesen inhaltlichen Forderungen, auch darum, politische Strukturen und Prozesse transparenter und somit nachvollziehbarer zu machen. Dafür soll der Staat seinen Bürgern Zugang zu allen Vorgängen und Dokumenten auf allen Ebenen des Staates und der Verwaltung geben. Dieser Zugang sollte idealtypisch über ein frei verfügbares Internet möglich sein. Zusätzlich ist es nach Meinung der Piraten notwendig, die direktdemokratischen Elemente innerhalb Deutschlands mit Hilfe des Internets auszuweiten. Allein aufgrund eines Verständnisses des Begriffes der Netzpolitik, der sowohl inhaltliche (policy), institutionelle (polity) und prozessuale (politics) Aspekte beinhaltet, kann die Piratenpartei nicht als monothematisch abgestempelt werden. Netzpolitik ist demnach Politik mit, über und des Netzes.

Dass auch andere Themen außerhalb digitaler Themenbereiche von Belang sind und durchaus zum Repertoire der vergleichsweise jungen Partei gehören, hat der Wahlkampf in Berlin zeigen können. Neben den bekannten Themenbereichen wurde mit der Forderung nach einer „fahrscheinlosen Nutzung des ÖPNV zum Nulltarif“ und eines „Rauschkunde-Unterrichts“ um die Gunst der Wähler geworben. Ob diese Themen wirklich zu einer erhöhten Stimmabgabe für die Piraten geführt hat, sei dahingestellt. Zumindest zeigt es wenn auch einen vorsichtigen und nicht allzu ernst zu nehmenden Versuch neue Themengebiete für die Partei zu durchdringen.

Um weitere Themen der Piratenpartei zu erschließen, bietet sich ein Blick in das im November 2010 verabschiedete Grundsatzprogramm an. Hier bilden neben digitalen Themen (Fragen des Urheberrechts, Transparenz und Teilhabe durch neue Medien) ebenfalls die Bereiche Umweltpolitik, Geschlechter-/Familienpolitik sowie Bildungspolitik das Interesse der Freibeuter. Es greift also zu kurz die Piratenpartei nur als Gegner von Vorratsdatenspeicherung und Zensurinfrastrukturen einzuordnen. Insbesondere die Forderungen zu mehr Teilhabe an politischen Prozessen und erhöhter Transparenz bilden den Kern der programmatischen Ausrichtung.


Liquid Democracy – Demokratie reloaded?

Wie die junge Partei Entscheidungsfindung und –prozesse in ihren Augen demokratischer gestalten möchte, ist eng verknüpft mit der Entwicklung des Online-Tools Liquid Democracy. Die gemachten Überlegungen arbeiten sich dabei an vermeintlich identifizierten Defiziten der in Deutschland vorherrschenden repräsentativen Demokratie, welche auch aus informellen Verhandlungen besteht, ab. Insbesondere kritisieren die Vordenker der „Flüssigen Demokratie“ die starren Strukturen, in denen dem Bürger lediglich alle 4-5 Jahre (je nach (Landes-)Verfassung) die Möglichkeit einer Wahl eröffnet wird. In der dazwischen liegenden Zeit sei eine Teilhabe und Mitwirkung an politischen Entscheidungen nicht gegeben.

Idealtypisch lässt sich durch Liquid Democracy diese vermeintliche Problematik umgehen. Durch eine Mischung aus direktdemokratischen Elementen, in denen Bürger unmittelbar über politische Themen entscheiden können besteht die Möglichkeit, bei mangelnder Sachkompetenz den eigenen Stimmenanteil auf Abgeordnete zu übertragen. Auch diese sollen im Sinne der Liquid Democracy die Möglichkeit haben, den eigenen Stimmenanteil auf, ihrer Ansicht nach, kompetente Abgeordnete zu übertragen.



So sehr verlockend dieses demokratische Utopia wirkt, so wird doch ein zentraler Faktor außen vor gelassen. Auch wenn sich die einzelnen Bürger nicht inhaltlichen Themen widmen müssen, so ist es dennoch notwendig, sich zumindest ein Wissen anzuhäufen, welche Abgeordnete über die entsprechende Expertise verfügen. Es ist demnach ein Bürger notwendig, der aktiv sich um diese Informationen bemüht, also eine Form politischer Partizipation ausübt. Wie sich ein solches Modell in Zeiten wachsender Beschleunigung in allen Lebensbereichen und einer nach wie vor zwar nicht umfassenden, aber dennoch existenten Politikverdrossenheit Sinn macht, sei dahingestellt. Die bereits heute vorherrschenden Probleme der repräsentativen Demokratie könnten ebenfalls die einer flüssigen Demokratie werden.
 

Fazit – Protestpartei oder wählbare Alternative?
Der Blick in die Themenbereiche der Piraten und das vorgeschlagene Modell der Liquid Democracy haben gezeigt, dass die Freibeuter es verstehen, fernab von Zensursula- und Vorratsdatenspeicherung-Debatten auch weitere Themenfelder besetzen und es im Kern um eine Veränderung der Entscheidungsstrukturen und –prozesse geht. Die Ansätze einer Liquid Democracy sind zunächst schlüssig, versucht sie doch die als defizitär bezeichnete repräsentative Demokratie u.a. durch direktdemokratische Elemente zu verbessern. Dennoch scheint ein solches Modell bei genauerer Betrachtung und den weiter bestehenden Rahmenbedingungen der politischen Kultur kaum realisierbar zu sein. Zu hoch sind die (Informations-) Anforderungen an die Bürger, die sich fortan statt über Themen, über Personen informieren müssten. Politik verkommt somit zu einem täglichen Wahlkampf, indem der Abgeordnete versucht, möglichst viele Stimmenanteile zu sammeln.

Dennoch honorieren die Wähler Vorschläge, die die für den Normalbürger kaum noch verständlichen und teilweise auch intransparenten Entscheidungsprozesse kritisieren und alternative Möglichkeiten zur Entscheidungsfindung hervorbringen. Die Wählerwanderung in Berlin hat gezeigt, dass die Piraten Wählerpotential in allen Lagern besitzen. Schon alleine diese Beobachtung lässt vermuten, dass es sich bei den Piraten zumindest nicht inhaltlich um eine klassische Protestpartei handelt. Vielmehr schöpfen sie ihr Potenzial aus der Kritik an den bestehenden Entscheidungsstrukturen. Die Zukunft der Piraten wird auch davon abhängig sein, ob sie realisierbare Ansätze zu einem „mehr“ an Demokratie hervorbringen können und sich weiteren Themen widmen. Nur dann bleiben sie für die Bürger eine wählbare Alternative.

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