„Ein Zurück zur Normalität des Parteiensystems wird es nicht geben“

Friso Wielenga
Auf dem "NRW Forum: Zukunft Demokratie" soll über die schwindende Orientierungsfunktion der Volksparteien gesprochen werden. Den großen gemeinsamen Rahmen der Veranstaltung bildet der Austausch zwischen Wissenschaftlern und Politikern der Niederlande und Deutschland. Wir haben Professor Friso Wielenga, der Panel 1 beim NRW Forum moderieren wird, per Email zum Veranstaltungsthema befragt.

Der niederländische Historiker ist Direktor des Zentrums für Niederlandestudien an der Universität Münster und hat an verschiedenen Universitäten in Deutschland und den Niederlanden studiert oder gearbeitet. Vor kurzem hat er einen Sammelband mit dem Titel „Populismus in der modernen Demokratie – Die Niederlande und Deutschland im Vergleich“ herausgebracht (bestellen bei der LZpBNRW).

Was sind die Stärken und Schwächen der „niederländischen” Demokratie?
Es kommt ganz darauf an, aus welcher Perspektive man das Thema betrachtet. Aus der demokratischen Perspektive ist es sehr gut, dass die Niederlande mit 0,67% eine sehr geringe Wahlhürde haben. Der positive Aspekt daran ist, dass sich politische Bewegungen einfacher im parlamentarischen System etablieren können. Das hat in den Niederlanden eine lange Tradition und so ergibt sich eine große Pluralität im Parteienspektrum. Wenn man dies aber aus der Perspektive der Stabilitätbetrachtet, führt es zu vielen kleinen Parteien im Parlament. Die Folge ist eine schwierige Koalitionsbildung im Parlament. Man kann auch die konstitutionelle Monarchie positiv sehen, weil das Königshaus für Stabilität und Kontinuität steht.

Andererseits kann man auch die Meinung vertreten, dass ein nicht gewähltes Staatsoberhaupt wie die Königin keinen Einfluss auf die Regierungsbildung haben dürfte. Ist es demokratisch, dass die Königin hinter den Kulissen eine Rolle spielt? Man kann noch einen dritten Aspekt nennen. In den Niederlanden gibt es keine gewählten Oberbürgermeister wie in Deutschland. Einerseits kann dies als Demokratiedefizit gesehen werden. Warum dürfen die Bürger nicht entscheiden, von wem sie in der Kommune regiert werden? Man kann anderseits auch sagen, dass es etwas für sich hat. Der Oberbürgermeister wird in den Niederlanden von der Regierung, auf Vorschlag des Kommunalparlaments, ernannt. Dadurch schwebt er etwas oberhalb der Parteien und stellt eine integrierende Person dar.

Wieso funktioniert der Rechtspopulismus in einem urliberalen Land wie den Niederlanden?
Zunächst einmal haben die Niederlande den Ruf, ein liberales und tolerantes Land zu sein. Wenn man genauer hinschaut, ist es mit dieser Toleranz nicht immer so gut gestellt. Vielmehr halten es die Menschen in den Niederlanden in etwa nach folgender Richtlinie: „Wenn du mich in Ruhe lässt, lasse ich auch dich in Ruhe“. Das heißt, man setzt sich nicht so richtig mit anderen Personen und Kulturen auseinander.

Man lebt seit langer Zeit teilweise in so etwas wie einer Parallelgesellschaft nebeneinander her. Es gibt in vielen Ländern die sozialen und weltanschaulichen Milieus. In den Niederlanden war das lange Zeit stärker ausgeprägt. Es gab ein System, das wir Versäulung genannt haben. Es gab eine protestantische, eine katholische, eine sozialdemokratische und liberale Säule, die relativ wenig Kontakt zu einander hatten. Nur die Eliten der jeweiligen Säule arbeiteten pragmatisch „säulenübergreifend“. Das Ende dieser starken Milieubindung – die sog. „Entsäulung“ setzte Ende der 1960er Jahre ein. Seitdem ist auch das Parteiensystem, das eng mit der Versäulung zusammenhing, allmählich zerbrochen. Die traditionellen Bindungen waren in den Niederlanden zwischen Wählern und den Parteien sehr eng. Aber in der Zeit der Entsäulung wurde diese Bindung aufgelöst und seit den 1990er Jahren gibt es eine Volatilität in der Wählerschaft, die in Europa seines Gleichen sucht. Damit war ein Grundstein für starke Schwankungen gelegt.

Wenn es Probleme in Bereichen wie Integration, Migration, Zukunftsunsicherheit des Sozialstaats oder Abgrenzungen zu Europa gibt, sind das Themen, die von Populisten besetzt werden können. In einem Wahlvolk, das sich von Parteien losgelöst hat, ist es für populistische Stimmenfänger relativ einfach zu bestehen. Allerdings sind die Niederlande da keine Ausnahme – weitere Beispiel in Europa sind Dänemark, Schweden, Österreich, Belgien, Italien und auch Frankreich. Die einzige momentane Ausnahme stellt Deutschland dar.

Die Wissenschaft warnt davor, die Bürger wollen mehr davon: direkte Demokratie – ist die repräsentative Demokratie ein Auslaufmodell?
Ich glaube nicht, dass die repräsentative Demokratie ein Auslaufmodell ist. Es ist zwar so, dass die repräsentative Demokratie permanent unter Druck steht. Dabei wird aber hauptsächlich über Ergänzungen zu diesem Modell diskutiert. Auch die Populisten plädieren für direktdemokratische Elemente wie Referenden. Dabei geht es den Populisten aber weniger um die Instrumente der direkten Demokratie, sondern vielmehr darum, bei bestimmten Themen zu punkten. Ich glaube aber nicht, dass die Bevölkerung besonders anfällig für dieses Vorgehen von populistischen Parteien ist. Denn sobald man versucht, die Bevölkerung stärker an die Politik zu binden oder sie in die Entscheidungsfindung einzubeziehen, sind es nicht die Personen mit populistischer Einstellung, die sich engagieren. Das Publikum ist eigentlich ein ganz anderes. Es sind vordergründig die politisch Engagierten, die dann partizipieren. Vielleicht sollte man tatsächlich die Möglichkeiten von direkter Demokratie ergänzen und vergrößern.

Aber man sollte jetzt keine Krise der repräsentativen Demokratie heraufbeschwören, bei der die direkte Demokratie die Antwort auf alle Probleme ist. Man sieht es auch an Stuttgart 21: Man erweitert die Runde, man debattiert – aber wer trägt dann letztendlich die Verantwortung? Das sind dann die politischen Entscheidungsträger. Mit der direkten Demokratie bekommt man teilweise noch mehr Probleme in der Entscheidungsfindung. In den Niederlanden ist man sehr zurückhaltend mit der direkten Demokratie. Es hat einmal ein Referendum gegeben und da wurde 2005 die Verfassung für Europa abgelehnt.

Zuletzt ein Blick in die Zukunft der Parteien: Welche organisatorischen  Veränderungsprozesse müssten die etablierten Parteien einläuten, um  künftig wählbar und damit gestaltungsfähig zu bleiben? 
Der neue Weg ist schon eingeleitet worden. Man versucht mehr den Kontakt zu den Bürgern zu suchen. Dabei geht der Weg nicht nur über die Parteimitglieder, was die Debatte in der SPD über eine allgemeine Wahl des Kanzlerkandidaten zeigt. Das sind wichtige Wege, die bestritten werden. Das kann auch heißen, dass es mehr in Richtung von Single-Issue-Bewegungen geht. Auf jeden Fall wird das Öffnen der Parteien ein wichtiger Faktor sein. Man sollte dabei nicht die Vision haben, dass man dadurch die großen alten Volksparteien wieder zurückbekommt. Dafür sind solche strukturellen Veränderungen eingetreten, dass man die alten Schemata, zum Beispiel die traditionelle Einordnung in links und rechts, nicht mehr nutzen kann. Ist es links oder rechts für die Rente mit 67 zu sein? Ist es links oder rechts für mehr Befugnisse der Europäischen Union zu plädieren? Man sieht, dass die alten weltanschaulichen Trennungslinien zwischen den Parteien in der heutigen Zeit so nicht mehr gelten. Das macht es auch für die traditionellen Parteien unheimlich schwierig, sich in dieser Zeit zu behaupten. Für Deutschland gilt das vielleicht nicht so stark, aber die Piratenpartei ist auch eine Form dieser Neuausrichtung. Wir sollten uns darauf vorbereiten, dass es ein Zurück zur Normalität des herkömmlichen Parteiensystems nicht geben wird.


Das Interview führte Jonas Israel.

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