"Populismus ist die Rache an unserer Demokratie"


René Cuperus ist leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter  bei der "Wiardi Beckman Stichting" und im wissenschaftlichen Büros der Pvda, der niederländischen Sozialdemokraten in Den Haag. Er nimmt als Diskutant am Panel 2 teil, auf dem sich über die Frage 'Welche Schwächen der etablierten Parteien nutzen die Populisten?' ausgetauscht wird. Wir haben René Cuperus telefonisch zum Thema befragt: 

Herr Cuperus, was sind Ihrer Meinung nach die drei größten Schwächen der etablierten Parteien? 
"Das ist eine wichtige Frage zu Anfang, weil ich der Meinung bin, dass das Phänomen Populismus, das man in fast allen europäischen Ländern antrifft, ein Produkt ist von den Schwächen oder Defiziten der ehemaligen Volksparteien der Mitte. Ich denke die erste Schwäche ist, dass die etablierten Parteien – oder die ‚Parteien der breiten Mitte‘ – keine Sicherheit mehr produzieren. Die Parteien haben einfach die Fähigkeit verloren, dieses Gefühl der Bevölkerung zu vermitteln...

... Dies gilt sowohl im ökonomischen Bereich als im kulturellen. Parteien sind nicht mehr in der Lage ökonomische, soziale und kulturelle Kontinuität und Sicherheit zu bieten, weil sie selber kein festes Zukunftsbild mehr haben.

Die Eliten der Parteien verspüren deshalb auch nicht mehr ‚die Sicherheit‘ und können sie demnach auch nicht vermitteln. Stichwort Eurokrise. Die Bevölkerung spürt, das Merkel und Sarkozy selber überrascht sind von den Ausmaßen der Eurokrise und nicht ganz genau wissen was zu tun ist  - und wie die Zukunft Europas aussehen sollte, wie die sozialen Folgen der Krisenlösung aussehen. Die Bevölkerung spürt diese Unsicherheit der Eliten. Dies ist besonders problematisch aufgrund der vergangenen Jahrzehnte, da wir es hier mit einer stabilen Nachkriegszeit zu tun hatten, wo die Volksparteien immer soziale und ökonomische Sicherheit bieten konnten. Diese Sicherheit müssen die Parteien zurückgewinnen, sie müssen sie programmatisch neu aufbauen. Vor der Eurokrise war das Zukunftsbild der Eliten ausgerichtet an der Anpassung an die Globalisierung und die Wissensgesellschaft. Dies verursachte aber schon damals einen Graben zwischen den Eliten und den Wählern, besonders im Hinblick auf die Stammwähler der Volksparteien. Fassen wir die erste Schwäche also nochmal zusammen, ist sie das Sicherheitsvermittlungsproblem und ein zu elitäres Zukunftsbild.

Die zweite Schwäche lässt sich kürzer erklären. Die scheinbar alternativlose, technokratische Anpassungspolitik an die Globalisierung hat den Unterschied zwischen rechts und links im Parteienspektrum aufgelöst – er ist schlicht erodiert. Die Mainstreampolitik nähert sich zu stark an. Auch hier wieder das Stichwort Europa. SPD und CDU sind mehr oder weniger komplett einig über Europa. Es gibt kein 'linkes' oder 'rechtes Europa' - nein, es gibt Europa und es gibt die sogenannten Gegner von Europa, das sind die nationalistischen Populisten. In der Politikwissenschaft ist es ja nichts Neues, dass wenn man die Links-Rechts-Unterschiede verschwinden lässt, man andere Konfliktlinien oder Scheren erhält – die sogenannte populistische Schere. Dann bekommt man wie in den Niederlanden oder auch in Deutschland – hier ist es nur mehr versteckt (es gibt kein politisches Angebot in Deutschland) – populistische Einflüsse und es tut sich eine Schere auf zwischen Volk und Establishment. Oft bleiben auch nur, wenn der Wähler seinen Protest Ausdrücken oder eine Alternative will, die Populisten. Das hat auch was mit dem Konzept „Alternativlosigkeit“ von Enzensberger zu tun. Denn programmatisch gesehen haben wir es quasi mit einer großen Koalition zu tun (unabhängig von der Frage Regierung oder Opposition) und das verwirrt die Demokratie und produziert Populismus.

Die dritte Schwäche ist die Qualität der Politiker. Die Volksparteien sind relativ schwach geworden, dass die Selektions- und Rekrutierungsprozesse fast schon unter Niveau sind. Die Politik bekommt einfach nicht mehr die besten Leute. Zu viele technokratische Beamten, zu wenig Politiker, die Leute ‘mitnehmen‘ können in den Zukunftsfragen. Auch das unterminiert das Vertrauen in die Politik."

Notlösung oder gestaltende Kraft? Nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in Nordrhein-Westfalen regiert aktuell eine Regierung ohne eigene Mehrheit. Halten Sie eine Minderheitsregierung für das geeignete Format die großen Probleme unserer Zeit zu lösen?
"Meine Antwort ist ja und nein. Ich denke, wir leben in gefährlichen Zeiten. Die Probleme sind so groß und die Spannungen in unserer Gesellschaft sind viel stärker geworden im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten. Dies bedarf mutiger Politik. Und manchmal brauch es auch unpopuläre Maßnahmen und dafür sind Minderheitsregierungen eigentlich nicht das richtige. Hier fehlt dann Unterstützung, da keine parlamentarischen Mehrheiten vorhanden sind. Das macht die Politik schwach und stattdessen braucht man starke Politik, um die Probleme mit unpopulären Maßnahmen anzupacken. Das leisten Minderheitsregierungen oft nicht, weshalb es zu einem Legitimitätsverlust kommt.

Aber das ist nur die eine Seite und deswegen sage ich auch nein. Denn es macht ja keinen Sinn zu sagen, die Probleme und Herausforderungen von Deutschland sind so groß, dass man nur noch eine große Koalition braucht oder nur noch Technokraten in Regierungen. Dies hebt gewisser Maßen die Demokratie auf. Das wird ja jetzt vorgeschlagen in Italien oder Griechenland. Quasi man kann sich die Demokratie nicht mehr leisten, weil die wirtschaftlichen Zwänge zu groß sind. Dies ist auch eine gefährliche Entwicklung. Vielmehr braucht man Politik, die auch programmatische Unterschiede und verschiedene Angebote hervorbringt. Die Bürger müssen auch wieder mehr in die Beschlussfassung eingebunden werden. Man braucht gerade politisch-demokratische Konflikte, um die Bürger bei der Problemlösung mitzunehmen – denn dies wirkt erst mobilisierend und Informationsvermittelnd. Nur weil in den Niederlanden und in Dänemark Referenden stattgefunden haben, war die Bevölkerung in einigem Maße mit einbezogen in europäische Entwicklungen. Streit und Konflikte gehören dazu. Lässt man aber die Probleme durch Technokraten oder große Koalitionen lösen, befindet man sich auf einem gefährlichen Pfad. Es gibt auch eine klare autoritäre Tendenz in der europäischen Politik – eine apolitische Tendenz – die Menschen werden einfach nicht mehr gefragt. Je technokratischer, je autoritärer, je apolitischer Politik gemacht wird, desto größer ist der Rache des Populismus."

Spielt das Regierungsformat eine Rolle im Umgang mit Populismus? Glauben Sie, dass die Einbindung Wilders durch die Tolerierung der Minderheitsregierung ihn ‚zähmt‘ und zu pragmatischeren Forderungen bewegt?
"Die Hoffnung der CDA (Christen Democratisch Appèl) und der VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie), der Christdemokraten und der konservativ-Liberalen, war, dass mit der Einbindung Wilders, er seine populistische Art verlieren würde. Die Hoffnungen gingen sogar weiter, denn Wilders Partei hätte stark geschwächt sein können, wenn seine Wähler diese Tolerierung ablehnen. Wenn Protestler in Regierungshandeln einbezogen werden, kann es zu einem gegenteiligen Effekt kommen. Oft laufen dann die Protestwähler davon. Das Interessante ist nun, dass dies nicht passiert ist. Nicht Wilders ist komplett geschwächt – nein - die Christdemokraten sind stattdessen stark geschwächt und geben ein sehr schlechtes Bild ab. Mit den innerparteilichen Spannungen befindet sich die CDA dieser Tage auf einem selbstmörderischen Kurs. Die Umfragen sehen dementsprechend schlecht aus. Und es gibt nur zwei große Formationen in Holland und das sind die VVD, die Kanzlerpartei, die immer einen Kanzlerbonus bekommt und noch immer Wilders. Obwohl er nun doch einige Mitverantwortung trägt, ist er noch immer in der Lage auf zwei Ebenen sein Spiel zu spielen. Mehr oder weniger ist er an der Regierung beteiligt – er ist aber auch Opposition zugleich. Das macht er sehr clever.

Den Schaden trägt nun der Juniorpartner in der Regierung, so wie in Deutschland die FDP oder wie die Liberals in England. Die Juniorpartnerschaften in Regierungen sind sehr problematisch geworden. Das Problem mit der Minderheitsregierung in Holland ist, dass Wilders zwar der Regierung zu Mehrheiten verhilft solange es um Innenpolitik oder Sicherheitspolitik geht, aber sich beim Thema Europa und beim Thema Immigration und Islam verweigert. Und dann braucht die Minderheitsregierung Stimmen der anderen Oppositionsparteien, meistens die der PvdA (Partij van de Arbeid), um Mehrheiten in Europafragen herstellen zu können. Zwar regiert die PvdA dann mit, aus der Opposition heraus, aber das ist sehr schädlich für die PvdA. Denn diese sozialdemokratische Partei macht nun keine scharfe Opposition gegen ein konservatives-populistisches rechtes Kabinett. Dies nutzt Wilders sehr intelligent, um der PvdA vorzuhalten, nicht ich, Wilders, bin der Tolerierer, sondern Sie, die Sozialdemokraten sind es. Die PvdA bringe alles Geld nach Griechenland. Das macht sich für einen Populisten natürlich super und deswegen sind die Sozialdemokraten in den Umfragen auch abgestürzt. Die Theorie der Politologen stimmt nicht mit der Praxis der Minderheits-Tolerierungsregierung in Holland überein."

Gefahr oder Chance – was überwiegt und warum? Sind die Volksparteienruinen eine Gefahr für die Stabilität unserer Demokratie oder ist das dynamische Vielparteiensystem gerade eine Chance für mehr Demokratie und Beteiligung?
"Das ist eine umfassende Schlüsselfrage – aber die Antwort wissen wir nicht. Was man sagen kann ist, dass die Stabilität der Nachkriegsjahrzehnte komplett auf der Sicherheitsvermittlung der Volksparteien beruhte. Der Volksparteienstaat und der Sozialstaat bildeten zusammen mit dem Rechtsstaat einen stabilen Komplex. Zusammen mit dem Europaprojekt, das existentielle Antwort auf den totalitären Alptraum des Kommunismus und Nazismus war. Außerdem wurde die Gesellschaft durch die Milieus zusammengehalten. In einer Zeit der Individualisierung und Lifestyle-Politik passen die großen Volksparteien nicht mehr in den Rahmen. Allgemein haben es Mitgliederorganisationen sehr schwer unter diesen Bedingungen. Das sind nicht nur Volksparteien, sondern auch Kirchen, Gewerkschaften oder z.B. auch Zeitungen. Man sieht einfach in der Gesellschaft eine starke Differenzierung. Menschen fühlen sich einfach nicht – und sind vor allem auch nicht glücklich - als Untertan der Masse, was ebenfalls extrem problematisch für das alte Modell ‚Massenpartei‘ ist. Diese Zersplitterung ist zwar Ausdruck unserer Zeit, aber die zentrale Frage bleibt jedoch, können wir gesellschaftliche Stabilität und Solidarität erzeugen ohne Volksparteien? Welche Brücke können wir hier bauen? Diese offenen Fragen sollen eins zeigen: Die Volksparteien waren die Brücke zwischen den Eliten, der Mittelschicht und der weniger gebildeten Unterschicht. Wie lässt sich diese Solidaritätsgemeinschaft ersetzen, wenn zunehmende Individualisierung Solidarität schwinden lässt? Ich denke, dass ist die Gretchenfrage für Europa. Sonst kann man keinen Sozialstaat mehr aufrechterhalten und wir gehen einen Weg wie in Amerika."

Die Wissenschaft warnt davor, die Bürger wollen mehr davon: direkte Demokratie – ist unsere repräsentative Demokratie ein Auslaufmodell?

"Die Debatte sollte nicht als direkte Demokratie vs. repräsentative Demokratie geführt werden. Das ist zu einfach. Was soll denn überhaupt eine direkte Demokratie sein in einem Land von 80 Millionen Einwohnern wie in Deutschland? Oder im Europäisches Imperium von mehr als 500 Millionen Einwohnern? Das ist nur schwer vorstellbar. Vielmehr muss man doch nur mehr direktdemokratische Elemente in die repräsentative Demokratie einbauen – ich denke das ist notwendig. Das Problem ist auch hier geschichtlich ausgelegt. Nach Nazi-Deutschland wurde ein sehr repräsentatives System aufgebaut resultierend aus einem Nachkriegstrauma. Denn der Fall der Weimarer Republik oder auch des Kommunismus, letztlich sogar Nazi-Deutschland, wurden als Versagen der Massen gesehen. Mit schlimmen Konsequenzen für Europa. In der Nachkriegszeit wurde darum nicht zuerst eine starke Volksdemokratie gestaltet, sondern vielmehr ein starker Rechtsstaat. Dies war dann ein sehr repräsentatives, elitäres Demokratiemodell. Eigentlich vielmehr Rechtsstaat als Demokratie, weil man sich vor einem weiteren Versagen der Masse fürchtete. Die Fünfprozenthürde oder das Bundesverfassungsgericht lassen sich in dieser Richtung interpretieren. Genauso wie das Grundgesetz.

Meiner Meinung nach hat das Nachkriegstrauma also zu einer repräsentativen Demokratie geführt, die eine zu große Distanz zu dem Volk in sich trägt. Eben ein bisschen zu elitär. Diese Distanz war nur vermittelt und überbrückt durch das Eliten-Stammwähler-Vertrauensband innerhalb der volksparteilichen Milieus. Aber mit der Erosion und Krise der Volksparteien ist diese Vertrauensband allmählich zerrissen. Den Populismus kann man sehen als eine Art Rache oder Korrektur dieser Form von Demokratie. Volksparteien sind nicht länger in der Lage eine Kanalisierung des Volkswillens zu sein. Sind sie nicht schon: Volksparteien ohne Volk, Massenparteien ohne Masse?"

Zuletzt ein Blick in die Zukunft der Parteien: Welche organisatorischen Veränderungsprozesse sollten/müssten die etablierten Parteien einläuten, um künftig wählbar und damit gestaltungsfähig zu bleiben? Wie sieht die Partei der Zukunft aus?
"Drehen wir die Frage doch auf den Populismus hin. Denn ich glaube, dass der Fokus hierbei entrückt ist. Es geht bei der Populismus-Frage nicht in erster Linie um Parteienentwicklungen oder organisatorische Fragen. Wirklich zentral sind die Entwicklungen in der Gesellschaft und die inhaltlichen Positionierungen der Parteien. Was ist mit sozialer Gerechtigkeit, mit Europa, mit Massenimmigration, Integration und Islamophobie? Was ist mit der Polarisierung und Prekarisierung des Arbeitsmarktes? Diese Fragen halte ich für viel wichtigere Ursachen unserer politischen Verwirrung. Ob es sich hierbei um eine Mitgliederpartei oder Netzwerkpartei handelt, ist weniger bedeutend. Der Kern sind vielmehr die Themen, die die Parteien ansprechen und besetzen. Wenn Bürger sich nicht mehr vertreten fühlen, weil es einen großen Graben gibt, zwischen den Parteien und den Menschen geht schließlich auch Vertrauen verloren. Die Bevölkerung wird einfach nicht mehr bei den politischen Projekten mitgenommen. Politik ist zu bürokratisch und elitär. Das ist nun eine müßige Diskussion und nur eine hypothetische Frage, aber wie breit unterstützt ist wohl der Europakurs Merkels in Deutschland? Sind die Vereinigten Staaten von Europa wirklich ein Mehrheitsprojekt auf Stammtischebene?

Die Parteien müssen wieder den Kontakt herstellen und das Gespräch suchen mit den Bürgern. Bürgernähe ist gefragt – zugespitzt ist eine Kümmererpartei (Johannes Rau) gefragt. Das Problem ist aber, dass die neue Konfliktlinie in der modernen Gesellschaft intensiver entlang Bildung verläuft. Bildung produziert eine neue Klassengesellschaft, ökonomisch und kulturell. Populismus definiere ich sogar als einen kulturellen Bürgerkrieg zwischen akademisch Gebildeten und nicht-akademisch Gebildeten. Die Volksparteien sind komplett mit ihren Auffassungen in dem akademisch-elitären, professionellen Bereich: „Ersatz Nation‘‘ Europa, die Wissensgesellschaft, radikale Ökologie, Multikulturalismus (in Kombination mit der deutsch-westliche Leitkultur als Tabu). Das öffnet die Tür für populistische Einflüsse. Der Populismus muss sehr ernst genommen werden, zugleich als Alarm und Gefahr der Demokratie. Die Volksparteien sollen ihrer Schwäche in die Augen sehen müssen."

Vielen Dank für das ausführliche Gespräch!

Das Interview führte Stephan Zitzler

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