Digitale Robin-Hoods oder gelangweilte Script-Kiddies? Das Phänomen Anonymous.

Zur Zeit vergeht kaum ein Tag, ohne dass man in analogen oder digitalen Medien etwas über Anonymous lesen kann. Die geheimnisumwitterte Gruppierung ist schon gar nicht mehr aus der Berichterstattung wegzudenken und doch ist relativ wenig über sie bekannt. Wer steckt dahinter und welche Ziele verfolgen sie? Gerade mit Blick auf das NRW Forum Zukunft Demokratie drängt sich die Frage auf, ob Anonymous eine Bereicherung oder eine Bedrohung für die Demokratie darstellt.


Der Ursprung: Kampf gegen die Church of Scientology
Angefangen hat alles auf sogenannten Imageboards. Diese Webseiten ermöglichen es dem Nutzer Bild- und Text-Dateien hochzuladen und zu kommentieren. Nutzer, die ihren Namen nicht angeben möchten, tauchen dort unter dem Pseudonym Anonymous oder Anon auf. 2008 erst als Spaß- und Scherzgruppierung gegründet, entwickelte sich Anonymous schnell zu einer Organisation mit politisch-motivierten Zielen. Zuerst richteten sich diese insbesondere gegen die Praktiken der Church of Scientology, die ein auf YouTube veröffentlichtes internes Video verbieten lassen wollte. Mit zahlreichen Aktionen, sowohl in der digitalen als auch in der anlogen Welt, protestierte Anonymous gegen diese vermeintliche Einschränkung der Redefreiheit. Ein erstes mediales Echo in Form von zahlreichen Rezeptionen in der Blogosphäre und auf digitalen Fachwebseiten war der neuen Bewegung sicher.

Der Big Bang: Die WikiLeaks-Affäre
Ein entscheidender Punkt in der Entwicklung von Anonymous ist der Untergang von WikiLeaks. Als ab Dezember 2010 WikiLeaks immer mehr unter Druck gerät und diverse Finanzdienstleistungsunternehmen sich weigern Spenden an die Plattform weiterzuleiten, beginnt Anonymous mit der sogenannten Operation Payback. Zahlreiche Anonymous- und WikiLeaks-Unterstützer stellen freiwillig ihre Computer für Distributed Denial of Service (DdoS)-Attacken – mutwillig herbeigeführten Überlastungen von Systemen, mit dem Ziel diese arbeitsunfähig zu machen – zur Verfügung. Mit diesen Aktionen werden vor allem die Webseiten von Mastercard, Visa & Co. Angegriffen und lahmgelegt.

Digitaler Sit-In oder ein terroristischer Angriff?
DdoS-Attacken sind gerade für die Anfangsjahre von Anonymous charakteristisch. Die Organisation selbst betrachtet diese Attacken als eine legitime Form des digitalen Protestes – als digitalen Sit-In. Doch inwiefern ist so eine Definition haltbar? Gerade in Estland wurde 2007 eindrucksvoll gezeigt, dass DdoS-Angriffe auch einen kompletten Staat enorm beeinträchtigen können. Und auch die NATO stuft Anonymous inzwischen als terroristische Organisation ein.
Zeit also wieder auf die zwei zentralen Fragen zurückzukommen: WER und WARUM?

Die anonyme Masse
Anonymous darf man sich nicht als verschworene Gruppe eingeweihter Personen vorstellen. Vielmehr ist es eine Organisation nahezu totaler Offenheit. Überall im Netz kursieren Rekrutierungs- und Propaganda-Videos. Organisation ist daher auch vielleicht das falsche Wort, denn Anonymous ist nicht hierarchisch koordiniert und verfolgt auch keine einheitlichen Ziele. Ein formeller Beitritt existiert nicht. Eine Studie der amerikanischen Soziologie-Professorin Gabriella Coleman belegt zudem die Heterogenität von Anonymous. Ganz gleich ob Hacker, Geek, Ex-Scientologe, Webdesigner oder Physikprofessor, jeder kann teilnehmen und jeder kann mit Hilfe von sozialen Netzwerken, Chats und Foren neuen Aktionen initiieren – alles anonym versteht sich.
Aus der großen Offenheit ergibt sich ein Problem: Jeder kann für Anonymous sprechen und jeder kann seine Aktion als Aktion von Anonymous deklarieren. Aus diesem Grund ist lange noch nicht überall Anonymous drin, wo Anonymous draufsteht.

Von Sony bis Zimbabwe
So ausdifferenziert die Mitmacher-Struktur, so unterschiedlich sind auch die Zielvorstellungen und die daraus resultierenden Aktionen – in der Sprache von Anonymous auch als Operationen beschrieben. Von DdoS-Attacken gegen Unternehmen bis hin zu Angriffen auf komplette Staaten ist eigentlich alles nur erdenkliche möglich. Jüngst erlangte das anonyme Kollektiv insbesondere für seine Kriegserklärung an ein mexikanisches Drogenkartell viel Aufmerksamkeit.
Die Liste von Aktionen ist inzwischen so lang, dass sie selbst im Wikipedia-Artikel zu Anonymous nur unzureichend dargestellt werden kann. Eines haben sie aber alle gemeinsam: im weitesten Sinne geht es immer um Freiheit. Redefreiheit, Meinungsfreiheit und manchmal sogar die Freiheit von realen Personen.


Der schmale Grat
Zwar attestiert auch Gabriella Coleman Anonymous hehre Ziele, aber die Art und Weise der Durchführung scheint doch mehr als fraglich. Eine nicht gewählte und nicht kontrollierte Masse von Menschen kämpft weit außerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens für mehr Freiheit, für mehr – ja für eine „bessere“ Demokratie. Dabei werden allerdings alle demokratischen und rechtsstaatlichen Mittel und Wege außer Acht gelassen. Für die selbsternannten digitalen Freiheitskämpfer scheint es viel einfacher und bequemer zu sein, wenn man seinen Protest mittels ein paar einfacher Mausklicks am heimischen Computer zum Ausdruck bringen kann, als sich jahrelang durch die politischen Instanzen streiten zu müssen. Damit bewegt sich das Kollektiv auf einem schmalen Grat zwischen legitimen Protesten und terroristischen Attacken.

Welt 2.0?
Für die heutigen Demokratien und Rechtsstaaten wird das zunehmend bedrohlich, denn sie werden von immer mehr Bürgern nicht mehr als handlungsfähige Alternative angesehen. Schuldlos sind sie an dieser Entwicklung allerdings nicht, denn sie reagieren nur sehr langsam auf die sich wandelnde Welt 2.0. Und wie sagte schon der Berliner Abgeordnete der Piratenpartei im Interview: „die Demokratie wird sich ändern müssen“ - Gleiches gilt aber auch für die Vorgehensweise von Anonymous.

Bildquellen:
Bild 1 & Bild 3: OperationPaperStorm (Flickr)
Bild 2: Fräulein Schiller (Flickr)

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