Bereitschaft zum Wandel?!

Betrachtet man die politische Großwetterlage, stellt man fest, dass diese eine Veränderung erfahren hat. Spätestens seit der Landtagswahl NRW 2010 ist klar, dass die großen Volksparteien mit ernsthafter Konkurrenz von kleineren Parteien rechnen müssen. So verloren die 'zwei großen' Volksparteien 10,3 Prozentpunkte (CDU) und 2,6 Prozentpunkte (SPD) gegenüber der vorherigen Wahl, während alle anderen Parteien Gewinne erzielen konnten. Um die Ursachen und Wirkungen davon zu prüfen, kann die Milieuspezifische Theorie weiterhelfen.

Ein Experte der Milieuforschung ist Prof. Dr. Michael Vester, der beim NRW Forum über "Volksparteien und Wählermilieus in der Krise" referiert. Vester ist emerit. Professor für Politikwissenschaften an der Leibniz Universität Hannover mit den Forschungsschwerpunkten: Milieu, soziale Bewegungen, Sozialstruktur und sozialer Wandel. Vester gehört keiner Partei an und ist Mitglied des Wissenschafts-Beirates von Attac. Sein Impulsreferat thematisiert den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft (Milieu) und Wählerverhalten (Milieus beschreiben Menschengruppen die sich in der Lebensauffassung und Lebensweise, der Alltagskultur, dem Geschmack, den beruflichen Lebenszielen oder Parteienpräferenzen ähneln). Für weitere Hintergrundinformationen zu seinem Vortrag hat er sich für ein telefonisches Gespräch bereiterklärt...

"Zurzeit haben wir in NRW eine Minderheitsregierung, die großen Volksparteien scheinen ihre Wähler zu verlieren. Glauben Sie, es wird zu einem Wechsel in der Politik kommen?" "Die Milieuforschung zeigt, dass Menschen durch ihre biographischen Erfahrungen dazu neigen, die gleichen Interessen ihrer Milieus zu vertreten und somit unbewusst ihr Milieu zu reproduzieren. Jedes Milieu hat gewisse Erwartungen an die Politik und deren Programm. Die Milieutheorie geht davon aus, dass die milieuspezifischen Einstellungen meist resistent gegen ökonomische oder soziale Situationen sind.

Auch wenn die junge Generation davon ausgeht, dass sie anders handelt oder handeln würde als ihre Eltern, sind sie doch durch ihr Milieu determiniert. Basierend auf Enttäuschungen, und dem daraus resultierenden fehlenden Vertrauen in die Politik, führt dies jedoch nun zu milieuspezifischen Schwierigkeiten. Die neue Generation spezifischer Milieus hat hier Probleme eine neue politische Identität zu definieren, die Wahlbeteiligung sinkt."

"Inwieweit beeinflussen soziale Bewegungen das Wahlverhalten der Bürger/innen?"

"Soziale Bewegungen sind ein wichtiger Bestandteil der Demokratie und stehen im Zusammenhang mit dem Wahlverhalten. Die aktuellen Bewegungen (Fukushima, Stuttgart 21) sind moralisch motiviert, sie zeigen dass sich neue Interessengruppen herausgebildet haben. So korreliert das beste Wahlergebnis der SPD (1972) u.A auch mit der Mitgliedzahl der Jugendorganisation der SPD (Jusos) die junge Wähler mobilisieren konnte. 1973 zählten die Jusos ihren höchsten Mitgliederstand. Inspiriert von den 68er Jahren setzten sie sich für eine Wohlstandsgesellschaft ein. Zurzeit sieht es jedoch so aus, als würden die Jugendbewegungen in Deutschland stagnieren."

"Haben sie eine Vermutung warum sich zur Zeit junge Menschen weniger mit Politik beschäftigen?" "Ich denke der neue Lehrplan (G8) kann dazu führen, dass SchülerInnen sich in ihrer Freizeit weniger mit dem politischen Geschehen auseinandersetzen können und/oder wollen. Die SchülerInnen sind durch die gesellschaftlichen Bedingungen aufgefordert sich früher und schneller zu bilden. Es verhält sich wie mit einem Hamster im Rad, egal wie schnell er läuft, er kommt nicht schneller vorwärts.

Folgendes Resümee lässt sich also für die politische Großwetterlage ziehen, zwei Strömungen lassen sich in unserer Gesellschaft zur Zeit beobachten: Die Reproduktion des eigenen Milieus (Parteipräferenz) - gemäß dem Motto „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ - und eine Politikverdrossenheit aufgrund von vergangenen oder aktuellen Enttäuschungen. Es stellt sich also die Frage, wie mit diesen parallel verlaufenden Prozessen umgegangen werden soll: Vor welchen Herausforderungen stehen die Parteien und wie können milieutheoretische Ansätze helfen die „neue politische Großwetterlage“ zu verstehen?"

Das Interview führte Kathi Engelbert

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